Dienstag, 15. Juli 2008

Zwangsheirat endlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt

Am 22. Februar 2008 hat die Berufungskammer des Sondergerichtshofes für Sierra Leone (Special Court for Sierra Leone, SCSL) „Zwangsheiraten“, die den drei Angeklagten Brima, Kamara und Kanu im Zuge des Verfahrens gegen die bewaffnete Gruppe „Armed Forces Revolutionary Council“ (AFRC) vorgeworfen wurden, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt.

Die Debatte um die Kriminalisierung von Zwangsehen im Rahmen von Angriffen gegen die Zivilbevölkerung und in bewaffneten Konflikten dauert schon eine Weile. Jetzt wurde die Zwangsheirat zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerstrafrechts von der höchsten Instanz eines gemischten Gerichts als eigenständiges Verbrechen, das von der sexuellen Sklaverei zu unterscheiden ist, anerkannt. Die Straf­bar­keits­voraus­setzungen, die vorliegen müssen, werden im Folgenden erläutert.

Das genannte Urteil des SCSL eröffnet Frauen, die Opfer solcher Gräueltaten wurden, neue Perspektiven der Straf­verfolgung und der Entschädigung – nicht nur in Sierra Leone, sondern auch in anderen betroffenen Regionen. Für die zahlreichen Frauen, die diese Misshandlungen während des Konfliktes zwischen 1991 und 2002 erdulden mussten und die als "Bush wives" („Dschungelfrauen“ nannte man die Frauen, die mit Kom­man­danten der Rebellengruppen zwangs­verheiratet wurden) stigmatisiert werden, stellt diese Entscheidung ein Meilenstein dar.

Die Entwicklung des Konzeptes der Zwangsheirat sei hier kurz beleuchtet, bevor die von der Berufungskammer des SCSL gegebene juristische Definition zusammen­fassend wiedergeben wird.

Es ist hinreichend bekannt, dass in bewaffneten Konflikten oder im Rahmen von Angriffen gegen die Zivilbevölkerung Frauen fast immer Opfer von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, werden: Vergewaltigungen, Zwangs­pros­titution oder sexuelle Sklaverei werden mit dem strategischen Ziel begangen, Terror zu verbreiten, den Gegner zu demoralisieren, oder die eigenen Kämpfer „bei Laune zu halten“.

Nebst diesen Gräueltaten wurden auch Zwangsehen von Menschen­rechts­organisationen regelmässig angeprangert. Die Zwangsehe war zum Beispiel während des Völkermordes in Ruanda ein gängiges an Frauen begangenes Verbrechen. Das Internationale Straftribunal für Ruanda (ICTR) hat im Fall Akayesu zwar befunden, dass die verschiedenen Formen sexueller Gewalt, wie sie von den Opfern während des Prozesses beschrieben wurden, auch Zwangsehen beinhalten. Die Zwangsehe wurde aber dabei nicht ausdrücklich als eigenständiges Verbrechen, das von anderen Formen der sexuellen Gewalt zu unterscheiden ist, anerkannt.

Was den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) angeht, so erwähnt das Römer Statut von 1998 den Tatbestand der Zwangsheirat nicht. Das Statut des SCSL lehnt sich stark an dasjenige des IStGH an, da dieses damals die aktuellste Kodifizierung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellte. Dementsprechend kennt auch dieses Statut die Zwangsehe nicht explizit als Tatbestand.

Dennoch hat die Verfahrenskammer II des SCSL in einer Entscheidung vom 7. Mai 2004 einen Antrag des Anklägers gutgeheissen, die Zwangsheirat mit der rechtlichen Qualifizierung als "anderweitige unmenschliche Handlungen" (Artikel 2 lit. i des Statuts des SCSL) als zusätzlichen Anklagepunkt gegen die Beschuldigten im Fall AFRC in die Anklageschrift aufzunehmen. Allerdings befand die gleiche Kammer schliesslich in ihrem Urteil vom 20. Juni 2007, dass der Tatbestand "anderweitige unmenschliche Handlungen" restriktiv und auf solche Art auszulegen sei, dass Verbrechen sexueller Natur nicht darunter fielen. Der Grund sei, so die Kammer, dass Artikel 2 lit. g des Statuts „alle andern Formen der sexuellen Gewalt“ bereits beinhalte. Das erst­instanzliche Richtergremium war in seinem Urteil zum Schluss gekommen, dass der Ankläger nicht hinreichend bewiesen habe, dass Zwangsehen nicht-sexuelle Verbrechen seien. Auch seien die bewiesenen Tathandlungen im Tatbestand der sexuellen Sklaverei (sexual slavery) enthalten und würden von diesem konsumiert. Dies­bezüglich hatte die Kammer befunden, dass der Begriff „Ehefrau“ (wife), wie er von den Tätern verstanden wurde, mehr dessen Besitzanspruch über das Opfer als den Status einer „Ehefrau“ im eigentlichen Sinne zum Ausdruck bringt.

Auf Berufung des Anklägers hin kritisierte die Berufungskammer des SCSL in ihrem Urteil vom 22. Februar 2008 diese Argumentation als fehlerhaft.

Zunächst haben die Berufungsrichter und die Berufungsrichterin die Reichweite des Verbrechens der „anderen unmenschlichen Handlungen“ untersucht und sind aufgrund einer teleologischen Auslegung und der Rechtssprechung der internationalen Gerichtshöfe zum Ergebnis gekommen, dass Verbrechen sexueller Natur dabei durchaus inbegriffen seien. Die Richter haben daran erinnert, dass es gerade das Ziel dieser nicht abschliessenden Bestimmung gewesen sei zu verhindern, dass eine festgelegte Aufzählung den Peinigern erlaube, die ausdrücklich genannten Tatbestände zu umgehen, indem sie sich immer neue Arten unmenschlicher Handlungen einfallen liessen.

In einem zweiten Schritt hielt die Berufungskammer fest, dass die Urheber der Zwangsheirat eher die Absicht hätten, ihren Opfern eine eheliche Beziehung aufzuzwingen als sie zu versklaven. Als Beweis für das Vorliegen einer solchen erzwungenen ehelichen Verbindung anerkannten die Richter zum Beispiel, dass AFRC Truppen Frauen oder junge Mädchen systematisch aus ihren Häusern entführten, sie zwangen, ihnen zu folgen und dabei die Aufgaben von Ehefrauen zu erfüllen: Dazu gehörten Geschlechtsverkehr, die Erledigung von Hausarbeiten für den "Ehemann" sowie das Hinnehmen von Schwangerschaften und die Sorge für die Kinder, die einer solchen „Ehe“ entsprangen. Von der „Ehefrau“ wurde erwartet, dass sie ihrem „Mann“ gegenüber völlig loyal war sowie „Liebe“ und Zuneigung zeigte.

Im Gegenzug war der "Ehemann" gehalten, Nahrung und Kleidung zur Verfügung zu stellen und seine "Ehefrau" zu schützen – unter anderem vor Vergewaltigungen durch die anderen Kombattanten. Dieser Schutz – obwohl höchst relativ – war dagegen nicht garantiert, wenn eine Frau einzig als Sexsklavin benutzt wurde. Hervorzustreichen ist die Feststellung der Richter, , dass die relativen Vorteile, die diese eheliche Beziehung für die Opfer mit sich brachte, in keiner Weise auf eine Zustimmung der Opfer schliessen liessen, und auch nichts am ver­brecherischen Charakter einer Zwangsheirat änderten. Im Übrigen drohten einer Frau, die ihren "ehelichen" Aufgaben nicht nachkam, Sanktionen, die bis zur Todesstrafe reichen konnten.

Die Berufungskammer kam zum Schluss, dass die Zwangsheirat nicht vom Verbrechen der sexuellen Sklaverei miterfasst werde, da sich die Verbrechenselemente von einander unterschieden, und dass das Verbrechen der Zwangsheirat nicht unbedingt ein Sexualverbrechen darstelle, da für seine Vollendung kein Sexualakt vorausgesetzt sei.
Überdies waren die Berufungsrichter und die Berufungsrichterin der Meinung, dass die betroffenen Frauen nicht nur während, sondern auch nach der Zwangsheirat schreckliche Leiden ausstehen mussten (Verletzungen im Unterleib, Geschlechtskrankheiten). Sie haben ferner die Stigmatisierung dieser Frauen hervorgehoben, welche von der Gesellschaft Sierra Leones ausgestossen und mit abwertenden Begriffen wie "Rebellenfrau" oder "Dschungelgattin" belegt werden. Die Berufungskammer hat daraus geschlossen, dass die Zwangsheirat in diesem Kontext ähnlich schwerwiegend ist wie andere, vom Völkerrecht anerkannte Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Richter waren allerdings darauf bedacht, solche Zwangsheiraten im Rahmen eines bewaffneten Konflikts klar von jenen Ehen zu unterscheiden, die von Familien in Friedenszeiten gemäss der Tradition mancher Kulturen arrangiert werden. Sie haben jedoch festgehalten, dass arrangierte Ehen von Minderjährigen gegen bestimmte menschenrechtliche Instrumente wie etwa das ‚Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau’ verstossen. Im Unterschied zu Zwangsheiraten sind solche arrangierte Ehen jedoch nicht kriminalisiert.

Das Gesagte brachte die Berufungskammer zu dem Schluss, dass eine Zwangsehe definiert werden kann als "eine Situation, in der der Täter durch seine Worte oder sein Verhalten eine Person durch Gewalt, Androhung von Gewalt oder durch Zwang dazu bewegt, seine Ehepartnerin zu sein, und ihr dadurch grosse Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit verursacht." Die Richter fügten hinzu, dass den Tätern mit Blick auf die Umstände, in denen die Zwangsheiraten ausgeführt wurden (Entführung, extreme Gewalt), klar gewesen sein muss, dass ihre Handlungen strafbar waren.
Dieses letztinstanzliche Urteil des SCSL ist somit von grosser Bedeutung. Selbst wenn die Richter betonten, dass dieses Verbrechen im spezifischen Kontext des Konfliktes von Sierra Leone zu beurteilen sei, bleibt abzuwarten, welchen Einfluss dieser Entscheid auf die Strafverfolgung von Zwangsheiraten in anderen Regionen haben wird. In Uganda zum Beispiel werden Frauen von der "Lord’s Resistance Army" entführt und Kommandanten zur "Ehefrau" gegeben. Erwähnenswert ist zudem, dass die Anerkennung der Zwangsheirat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Strafverfolgung auch ausserhalb eines bewaffneten Konfliktes - allerdings während eines Angriffs auf die Zivilbevölkerung - erlaubt. Das Urteil ist ein weiterer Schritt gegen die bisherige Straffreiheit gewisser Kombattanten, die von einer rechtsfreien Situation profitieren, um solch unmenschliche Handlungen gegen Frauen und junge Mädchen zu begehen.

Anne Althaus
(Übersetzung: Carolin Würzner)

Anne Althaus arbeitete als Rechtsberaterin im Büro des Anklägers am Sonder­gerichtshof für Sierra Leone Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen sind ausschliesslich diejenigen der Autorin. Sie widerspiegeln nicht jene von TRIAL (Track Impunity Always) und verpflichten TRIAL in keiner Weise, ebenso wenig wie andere Organisationen oder Institutionen für welche die Autorin tätig ist oder war.

Dieser Artikel ist im Journal von TRIAL Nr. 16 erschienen (Juni 2008, Seite 10-11)

Kindersoldatinnen: Spezifische Probleme von Mädchen

Mehr als 300‘000 Kinder unter 18 Jahren kämpfen heutzutage in über 30 Ländern der Welt als Kindersoldaten, sowohl auf Regierungs- wie Oppositionsseite. Die meisten Kindersoldaten werden in Afrika von regulären Streitkräften und bewaffneten Gruppen rekrutiert. Ihre Anzahl wird offiziell auf 120‘000 geschätzt. Die Art, wie Kindersoldaten eingesetzt werden, hängt nicht zuletzt auch von ihrem Geschlecht ab.

Obwohl es sich grössten­teils um Jungen handelt, beläuft sich der Anteil an Mädchen immerhin auf einen bis zwei Drittel. Mädchen werden aber selten als Kinder­soldaten bezeichnet, man spricht deshalb oft von „unsichtbaren Mädchen“. Mädchen machen heute rund 120‘000 aller Kinder aus, die weltweit in kriegerische Auseinander­setzungen verwickelt sind. Im November 2004 kämpften Mädchen als Kindersoldatinnen in mindestens 14 Ländern: in Burundi, der demokratischen Republik Kongo, der Elfenbeinküste, Liberia, Uganda, Kolumbien, Indien, Indonesien, Myanmar, Nepal, Sri Lanka, Israel, in den Besetzten Gebieten und im Sudan. Auf die Problematik der in Streitkräften und Rebellengruppen involvierten Mädchen wurde bis heute nicht ausreichend aufmerksam gemacht. Die traditionelle Wahrnehmung des bewaffneten Jungen als Kindersoldat muss überdacht werden, um vermehrt auf das Los der Kindersoldatinnen aufmerksam zu machen. Dies dient ebenso dem gezielten Einsatz von Hilfs­program­men, um alle die an kriegeri­schen Auseinandersetzungen teilnehmen zu entwaffnen und nachhaltig in die Gesellschaft zu reintegrieren.

Die steigende Anzahl von Kinder­soldaten ist insbesondere durch zwei Faktoren beeinflusst: Die sich ändernde Struktur von Konflikten, die sich mehr und mehr innerhalb eines Landes abspielen, und die Verbreitung von Kleinwaffen. In Konflikten sind die fehlende allgemeine Sicherheit sowie die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen oft Auslöser, welche Jugendliche, Mädchen einge­schlossen, dazu bringen, sich zu bewaffnen. Mädchen entscheiden sich vermehrt dazu, sich rekrutieren zu lassen, um häuslicher Gewalt zu entgehen oder um einer Aussenseiterrolle oder einer Position der Unterwerfung zu entfliehen, in welche die Gesellschaft sie drängt. Die Hoffnung auf einen sozial anerkannten und respektierten Status motiviert viele Mädchen, die auf der Suche nach Gleichbehandlung sind, sich rekrutieren zu lassen; zum Beispiel auf den Philippinnen oder in Sri Lanka. Kinder haben für bewaffnete Gruppen einen grossen Vorteil, denn sie sind einfacher zu manipulieren, zu motivieren oder einzuschüchtern. Sie sind gehorsamer als Erwachsene, passen sich besser an die neue Umgebung an und sind kostengünstiger. Aus diesen Gründen haben viele bewaffnete Gruppen (z.B. die „Revolutionary United Front“, RUF, in Sierra Leone, die „Lord’s Resistance Army“, LRA, im Norden Ugandas oder die „Front de résistance patriotique du Congo“ FRPI, in der DRC) massiv Kinder entführt, um die eigenen Reihen zu stärken. Im Allgemeinen haben Rebellengruppen die grösste Tendenz, Mädchen einzusetzen; diese werden jedoch auch von Regierungstruppen, paramilitärischen Organisationen oder Milizen eingezogen. Bewaffnete Gruppen integrieren besonders gerne Mädchen in ihren Reihen, weil sie häusliche Aufgaben übernehmen, und so der Stärkung der Kriegsmoral dienen. Sie werden unter­schiedlich eingesetzt, z.B. zum Kochen, Tragen von Munition oder Waffen, Wache halten, Spionieren, Übertragen von Meldungen und Erledigen von Botengängen. Darüber hinaus werden sie oft auch zu sexuellen Handlungen mit Kämpfern gezwungen. Diese Aufgaben bestehen nicht in Kampfhandlungen und sind deshalb auch weniger nach Aussen hin sichtbar. Aber entgegen weit verbreiteter Annahmen werden Mädchen auch in Kämpfen eingesetzt. Felduntersuchungen zeigen, dass bereits 2002 die Hälfte der befragten Mädchen in Streitkräften ihre Hauptaufgabe als Frontkämpferin sahen. In Sierra Leone gründete die RUF die „Small Girls Units“. Dies sind speziell zusammengesetzte Gruppen, bestehend aus Mädchen im Alter von 6 bis 15 Jahren, für häusliche Aufgaben und militärische Unterstützung. Alle Mädchen wurden aber vorerst militärisch ausgebildet.

Rechtliche Texte zum Thema zeigen ganz eindeutig, dass das Internationale Recht die Problematik der Mädchen, die in Kampfhandlungen verwickelt sind, noch nicht erkannt hat. Die Situation von Mädchensoldatinnen wird von den einschlägigen rechtlichen Instrumenten nicht als eigenständige Problematik erfasst, da sie rechtlich allgemein als Kinder definiert werden. Das Humanitäre Völkerrecht setzt das Mindestalter für die Rekrutierung und den Einsatz in Kampfhandlungen bei 15 Jahren an, sei es in internationalen oder internen Konflikten. Diese Regel gilt gleichermassen für alle am Konflikt beteiligten Parteien, sowohl für Regierungstruppen als auch für irregeläre bewaffnete Gruppen. Die UN Kinderrechtskonvention enthält das gleiche Mindestalter wie es vom Humanitären Völkerrecht festgelegt wird, während das zugehörige Zusatzprotokoll das Mindestalter für die Teilnahme an Feindseligkeiten von 15 auf 18 Jahre anhebt. Dies gilt auch für irreguläre bewaffnete Gruppen. Doch auch dieses wichtigste internationale Instrument zur Thematik der Kindersoldaten, erwähnt Mädchen nicht speziell. Es macht keinen Unterschied hinsichtlich des Geschlechts der Kindersoldaten, und zwar auch nicht bei der Regulierung der Demobilisierung. Einzig in den „Prinzipien von Kapstadt“ , die 1997 während der internationalen Konferenz über Kindersoldaten in Südafrika beschlossen und 2007 an der internationalen Konferenz über Kindersoldaten in Paris in den Pariser Prinzipien wiederaufgenommen und weiterentwickelt wurden, wird die spezielle Situation von Mädchen berücksichtigt. Ein Kinder­soldaten wird in den Pariser Prinzipien definiert als “Jede Person unter 18 Jahren, die einer Armee oder einer regulären oder irregulären bewaffneten Gruppe angehört, unabhängig von der Funktion wie Koch, Träger oder Bote, sowie jede Person unter 18 Jahren, die solche Truppen begleitet ohne Familienangehöriger zu sein, namentlich Mädchen, die zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangsheirat rekrutiert wurden. Der Begriff der Kindersoldaten umfasst daher nicht nur Kinder, die Waffen tragen oder getragen haben.“ Diese Definition, die einhellig von der UNICEF und einer grossen Anzahl NGOs im Bereich der Kinderrechte anerkannt wird, bricht eindeutig mit der stereotypen Vorstellung von Kindersoldaten. Es scheint heute unverzichtbar, auf der Basis dieser Prinzipien eine rechtlich bindende Definition festzulegen.

Aus strafrechtlicher Sicht stellt die „Zwangs­verpflichtung oder Ein­gliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in Streitkräfte oder bewaffnete Gruppen oder ihre Verwendung zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten“ gemäss Römer Statut und dem Statut des SCSL ein Kriegsverbrechen dar. Der SCSL hat die völkergewohnheits­rechtliche Natur dieser Straftat bestätigt. Die im Falle Lubanga am 29. Januar 2007 vom IStGH bestätigte Anklageschrift präzisiert, dass Lubanga angeklagt ist, Mädchen und Jungen eingezogen und bei Feindseligkeiten in Ituri eingesetzt zu haben. Des Weiteren wurden gegen Germain Katanga, Mathieu Ngudjolo Chui und Bosco Ntaganda wegen ihrer Rolle bei der Rekrutierung von Kindern Haftbefehle erlassen.

Nach einem Konflikt ist die Wiedereingliederung von Mädchen, die in Streitkräften eingebunden waren, ausschlaggebend bei der Bestimmung ihrer Rolle in der Gesellschaft und ihrer Zukunftsperspektive als Frau. Leider haben internationale Hilfsprogramme die speziellen Bedürfnisse dieser Mädchen zu oft nicht erkannt und haben sie deshalb nicht in die DDR-Programme (Desarmament, Demobilisation, Reintegration) zur Entwaffnung, De­mobilisierung und Reintegration aufgenommen. Die Erfahrung mit den DDR-Programmen seit 2000 hat es ermöglicht, der internationalen Gemeinschaft klar zu machen, dass die Problematik der Mädchensoldatinnen als eine eigenständige zu behandeln und im Friedensprozess als solche miteinzubeziehen ist.

Die Auswahlkriterien, die eine Teilnahme an DDR-Programmen erlaubten, sind generell zu eng bestimmt worden. Die Definition des „Kämpfers“ (combatant) müsste erweitert werden, damit auch Personen die als Hilfskräfte tätig waren, und nicht unmittelbar an Kampfhandlungen teilnahmen, mit einbezogen werden. Nur eine erweiterte Definition sichert eine Behandlung, welche die Geschlechter­problematik genügend beachtet und so die Teilnahme von Mädchen an DDR-Programmen ermöglicht. Die aktuellen Erfolge der DDR-Programme in Liberia sind der Erweiterung der Kämpferdefinition zu verdanken, welche die Integrierung der Mädchen in die Programme erleichtert hat. Um den Ausschluss der Mädchen von Wieder­ein­gliederungs­prozessen zu ver­stehen, müssen die Ausschlusskriterien erstmals identifiziert werden. Viele von diesen Mädchen sind nicht bereit, ihre militärische Beteiligung offiziell zuzugeben, denn ein Grossteil wird danach von der Familie und auch von der Gesellschaft stigmatisiert oder auch ausgeschlossen. Deshalb ist die enge Zusammenarbeit mit den betroffenen Gesellschaften, insbesondere mit nationalen Frauen­organisationen, ein wichtiger Schritt, um die Wiedereingliederung von Mädchen zu ermöglichen. Letztendlich haben die Mädchen in ihrer Zeit bei den Streitkräften auch Kompetenzen und Fähigkeiten erworben, welche im anschliessenden Wieder­eingliederungsprozess Beachtung finden müssen.

Régine Gachoud arbeitet als Rechts­beraterin im Büro des Anklägers am Sondergerichtshof für Sierra Leone. Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen sind ausschliesslich diejenigen der Autorin. Sie widerspiegeln nicht jene von TRIAL (Track Impunity Always) und verpflichten TRIAL in keiner Weise, ebenso wenig wie andere Organisationen oder Institutionen für welche die Autorin tätig ist oder war.

Régine Gachoud
(Übersetzung: Natascha Knoblich)


Régine Gachoud ist Rechtsberaterin im Büro des Anklägers am SCSL. Die im Artikel geäusserten Meinungen sind ausschliesslich diejenigen der Autorin. Sie widerspiegeln nicht jene von TRIAL und verpflichten TRIAL in keiner Weise, ebensowenig wie andere Organisationen oder Institutionen für welche die Autorin tätig ist oder war.

Dieser Artikel ist im
Journal von TRIAL Nr. 16 erschienen (Juni 2008, Seite 11-12)

Donnerstag, 5. Juni 2008

Ermittlungen im ersten Verfahren vor den Außerordentlichen Kammern in Kambodscha abgeschlossen

In die Verfahren vor dem internationalisierten Tribunal zur Verfolgung der Verbrechen, die in Kambodscha unter der Herrschaft der Roten Khmer begangenen wurden, ist Bewegung gekommen.

Wie das Büro der ermittelnden Richter der Außerordentlichen Kammern unlängst bekannt gab, sind die Ermittlungen gegen Kaing Guek Eav hinsichtlich dessen Verantwortung für die Vorfälle im ehemaligen zentralen Gefängnis- und Folterzentrum der Roten Khmer abgeschlossen. Der unter dem Namen „Duch“ bekannte, seit September letzten Jahres in Untersuchungshaft sitzende Beschuldigte war zur Zeit der Herrschaft des Pol Pot-Regimes Leiter des berüchtigten Tuol Sleng Gefängnisses, in dem tausende vermeintliche Regimekritiker und -gegner gefoltert und getötet worden sein sollen.

Sollten keine weiteren Ermittlungen von den Verfahrensbeteiligten verlangt werden, könnten die ermittelnden Richter kommenden Monat die Ermittlungen formell für beendet erklären und Anklage bei der Verfahrenskammer des Tribunals erheben. Mit Beginn des Verfahrens wäre dann ab Herbst dieses Jahres zu rechnen.

Die Beteiligung Duchs an anderen, zur Zeit der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha begangenen Verbrechen ist Gegenstand weiterer Untersuchungen durch das Gericht.

Wann mit einem Abschluss dieser Ermittlungen, die sich ebenso gegen die vier übrigen inhaftierten ehemaligen Regimemitglieder richten zu rechnen ist, ist momentan nicht absehbar.

von Patrick Kroker
wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Hamburg

Mehr zu den Außerordentlichen Kammern in Kambodscha finden sie hier.

Donnerstag, 29. Mai 2008

Der „Kampf für eine gerechte Sache“ ist kein Strafmilderungsgrund bei Verbrechen des Völkerstrafrechts!


Dies geht aus einem Urteil vom 28. Mai 2008 der Berufungskammer des Sondergerichtshofs für Sierra Leone hervor. Die Berufungskammer hob damit das Urteil der ersten Instanz gegen Moinina Fofana und Allieu Kondewa auf und erhöhte ihre Haftstrafe von 6 bzw. 8 Jahren auf 15 bzw. 20 Jahre.


Die beiden Verurteilten wurden am 9. Oktober 2007 der Kriegsverbrechen für schuldig befunden, darunter Morde, Brandschatzung und Plünderung sowie der Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Die Richter der ersten Instanz berücksichtigten aber den Umstand als strafmildernd, dass die Täter im Glauben handelten, mit ihren Massnahmen die Demokratie zu verteidigen und verkürzten die Haftstrafe massiv.


Politische Überlegungen können und dürfen keine Entschuldigung für Verbrechen gegen das Völkerstrafrecht sein. Es ist nicht akzeptierbar, dass die Bestrafung eines Verbrechens wie beispielsweise Folter oder der Einsatz von Kindersoldaten davon abhängig gemacht wird, auf welcher Seite der Täter stand – ob er für die „gerechte Sache“ kämpfte oder nicht. Eine Akzeptierung der „just cause“ als mildernder Umstand würde zu einer Ungleichbehandlung der Opfer führen und widerspräche dem Grundprinzip des humanitären Völkerstrafrechts, wonach sich alle Konfliktparteien – unabhängig des Konfliktgrunds – an dieselben Grundregeln halten müssen.


Das Urteil der Berufungskammer ist ein wichtiger Schritt in der Verfolgung von Verbrechen des Völkerstrafrechts.

Rechtsgutachten „Political Considerations in Sentence Mitigation for Serious Violations of the Laws of War before International Criminal Tribunals“ von Human Rights Watch
Pressemitteilung des Spezialgerichtshofs für Sierra Leone

Freitag, 23. Mai 2008

Jaques Vergès - Der Advokat des Terrors



Gestern startete der Dokumentarfilm "L'avocat de la terreur" in den Deutschschweizer Kinos. Der Film von Barbet Schroeder durchleuchtet auf sehr eindrückliche Art das Leben von Jaques Vergès, dem umstrittenen französischen Anwalt, welcher Kriegsverbrecher, Terroristen und Folterer wie Klaus Barbie, Carlos, Slobodan Milošević, Tarik Aziz, Khieu Samphân zu seinen Klienten zählt.

Offizielle Webseite: http://www.terrorsadvocate.com/

Donnerstag, 15. Mai 2008

Juristische und literarische Aufarbeitung der Rekrutierung von Kindersoldaten

Am 23. Juni 2008 beginnt vor dem internationalen Strafgerichtshof (ICC) das erste Verfahren wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten. Der kongolesische Rebellenführer Thomas Lubanga wird beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben, indem er Kinder von weniger als 15 Jahren in die Streitkräfte aufgenommen und bei den kriegerischen Auseinandersetzungen eine aktive Rolle hatte spielen lassen.

Seit Januar 2008 läuft zudem das Verfahren gegen Charles Taylor, den ehemaligen Präsidenten von Liberia, vor dem Spezialgerichtshof für Sierra Leone. Auch er wird beschuldigt, unter 15-jährige Kinder rekrutiert und benutzt zu haben und damit das humanitäre Völkerrecht in schwerwiegender Weise verletzt zu haben. Auf der Webseite des Gerichtshofs kann der Prozess gegen Taylor täglich live mit einem Video-Stream verfolgt werden.

Vor wenigen Tagen ist die deutsche Übersetzung des Erfolgsroman „Du sollst Bestie sein!“ (im Original „Beasts of no nation“) von Uzodinma Iweala erschienen. Der Autor erzählt die fiktive Geschichte des neunjährigen Agu, der als Kindersoldat schlimmste Verbrechen begeht. Für Aufsehen sorgte der Roman vor allem wegen seiner ungewöhnlichen Sprache: Die Geschehnisse werden aus der Perspektive von Agu in der Ich-Form und in der Gegenwart geschildert, in einer einfachen, lautmalerischen Sprache und ohne explizit moralischen Wertungen. Als Leser ist man hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit dem Opfer Agu und Abscheu vor dem Täter Agu.

Uzodinma Iweala, Du sollst Bestie sein!, Ammann-Verlag, Zürich 2008

Donnerstag, 24. April 2008

Europäisches Parlament debattiert über Anerkennung von Völkermord und Kriegsverbrechen, welche durch totalitäre Regime verübt wurden

Letzten Montag, am 21. April 2008, berichtete Jacques Barrot, Vize-Präsident der Europäischen Kommission, über die Anhörung zum Thema „Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und durch totalitäre Regime verübte Kriegsverbrechen“.

Die von der Europäischen Kommission und des slowenischen Präsidenten organisierte Anhörung befasste sich vor allem mit der Aufarbeitung und Anerkennung von unter Stalin verübten Verbrechen. Aber auch andere totalitäre Regimes, wie jenes von Franco in Spanien, von Salazar in Portugal, von Mussolini in Italien und die Militärdiktatur in Griechenland sollten nach der Meinung einiger Parlamentarier untersucht werden.

Die Kommission kam zum Schluss, dass die Wahl der Mittel zur Aufarbeitung der Verbrechen in erster Linie bei den einzelnen Staaten liege. Die Aufgabe der Union sei vor allem die Unterstützung dieser Prozesse und die Bereitstellung von gemeinsamen Programmen. Diese eher passive Haltung wurde aber am Montag von mehreren Parlamentariern kritisiert. Der Abgeordnete der Grünen, Daniel Cohn-Benedit betonte die Rolle des internationalen Strafgerichtshofs in der Aufarbeitung solcher Verbrechen. Gerechtigkeit könne nur erreicht werden, wenn die Verbrechen justiziabel gemacht und die Verantwortlichen vor Gericht gebracht würden. Die Europäische Union müsse sich daher bemühen, dass alle zivilisierten Staaten diesen Gerichtshof anerkennen.

Protokoll der parlamentarischen Debatte vom 21. April 2008:
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+20080421+ITEM-015+DOC+XML+V0//EN&language=EN

Freitag, 11. April 2008

Völkermord in Ruanda: neues Interview über die Rolle der USA und der UNO

Die linke Tageszeitung „Junge Welt“ veröffentlichte am 31. März 2008 ein Interview mit Chris Black, einem kanadischen Strafverteidiger am Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (u. a. für General Augustin Ndindiliyimana) und Mitglied des Internationalen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic, das dessen Todesumstände untersucht.

Er vertritt die These, dass der Völkermord der regierenden Hutu an den Tutsi in Wirklichkeit ein terroristischer Krieg der Rebellenorganisation RPF gegen die Regierung und das Volk Ruandas war, welcher von den USA und ihren Alliierten unterstützt wurde. Er spricht daher nicht von einem Völkermord, sondern von einem, von den USA gesteuerten „Regime Change“ gegen die sozialistische (Hutu-) Regierung. In diesem Sinne sieht er folglich auch den internationalen Strafgerichtshof für Ruanda als Propagandainstrument der RPF (und der Interessen der USA), welcher die wirklichen Vorfälle zu vertuschen versucht.

Das kontroverse Interview ist auf der Internetseite der „Jungen Welt“ nachzulesen: http://www.jungewelt.de/2008/03-31/059.php

Mehr über den Anwalt Chris Black ist hier zu finden:
Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Christopher_Black (englisch)
Ein Bericht über Chris Black und weitere „Verschwörungstheoretiker“ in: http://www.guardian.co.uk/media/2004/nov/30/pressandpublishing.marketingandpr (englisch)

Schweizer Mithilfe am Völkermord in Ruanda?

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss erzählt in seinem Roman „Hundert Tage“ die Geschichte eines Schweizer Entwicklungshelfers, der Anfang der 90er Jahre nach Ruanda fährt und den Völkermord miterlebt. Eine zentrale Rolle spielt im Buch die Frage der Mitschuld der Schweiz an der Ermordung Hundertausender Tutsi durch den regierenden Hutu. Sein Buch ist äussert provozierend und höchst interessant zu lesen.

Klappentext: Ruanda, April 1994, in Kigali wütet der Mob. David, Mitarbeiter der Schweizer Entwicklungshilfe, hat das Flugzeug, mit dem die letzten Ausländer evakuiert wurden, abfliegen lassen. Er versteckt sich hundert Tage in seinem Haus, vom Gärtner mit Nahrung versorgt - und mit Informationen über Agathe, Tochter eines Ministerialbeamten, die der Grund für sein Bleiben ist. Die vergangenen vier Jahre ihrer Liebe ziehen ihm durch den Kopf, die Zeit, die er als Entwicklungshelfer in Kigali verbrachte. Millionen wurden in ein totalitäres Regime gepumpt, das schließlich, als es die Macht an eine Rebellenarmee zu verlieren drohte, einen Genozid organisierte. Auch David wurde zum Komplizen der Schlächter, und als die Aufständischen Kigali einnehmen, flieht er mit den Völkermördern über die Grenze. Dort findet er in einem Flüchtlingslager Agathe wieder, aber es ist nicht die Frau, die er einmal liebte.

Streitgespräch zwischen dem Autor und Martin Fässler, Mitarbeiter der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit): http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/news/varia/858975.html

Ein weiteres empfehlenswertes Buch über die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda ist auch „Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda“ von Roméo Dallaire, dem ehemaligen Kommandeur der UN-Blauhelmtruppe in Ruanda.

Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Wallstein Verlag, Göttingen 2008